text

Über die Arbeit:

Mí Jardín 1-8. Genius loci 3
Licht- Schatten-Herbarium
2021 – 2022

Barbara Fässler
http://www.barbarafaessler.com

Mí Jardín # 1-8. Genius loci 3

 Mary Imhof, 2021

Wo sie malt, da ist nichts. Wo sie nicht malt, da erscheint eine Form. Die Leerstelle bezeichnet exemplarisch ein Exemplar oder besser eine körperlose und zweidimensionale Idee eines Exemplars. 143 weisse Schatten von 143 Pflanzen. Subtile und haargenaue Umrisse der kanarischen Flora, welche die Künstlerin in 12 Jahren Arbeit mehrheitlich in ihrem Garten in Gomera Stück für Stück angepflanzt und gepflegt hat.

Die Aquarellfarben stellt Mary Imhof selber her, mit auf der Insel gefundenen und aufbereiteten Pigmenten. So stammt das Dunkelgrau der Pflanzenserie vom Vulkangestein und die Farben der Streifen unter den weissen Schatten von selbst hergestellten Erd- und Mineralpigmenten aus der Gegend. Jede Farbe des Streifens bezieht sich auf die Beschaffenheit der darüber dargestellten Pflanze und repräsentiert die Farbe ihrer Blüten, ihrer Frucht oder der Blätter.

„Mí Jardín“ hat bis zur Vollendung der glasklaren Kategorisierung unterschiedliche Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse durchgemacht. Die Künstlerin hat ihren Garten in Gomera angelegt. Sie hat die Pflanzen ausgewählt, und immer wieder neu im Gartenperimeter gepflanzt. Für die vorliegende Arbeit wählte Mary Imhof die Pflanzen aus, welche sie besonders interessierten. Jede Auswahl impliziert ein Weglassen. Jede Kategorie eine bewusste Entscheidung.

Die Künstlerin musste den richtigen Moment abpassen, in dem der Schatten in die richtige Richtung projiziert wurde, damit die Begrenzungslinie klar und scharf sichtbar wurde. Die Fotografie wurde dann auf das Büttenpapier projiziert und die Pflanzenkontur nachgezeichnet. Schliesslich hat sie den Umraum mit dem Vulkangrau ausgemalt.

Durch die radikale Entmaterialisierung der Pflanzenabbildungen in Papierleerstellen, welche einzig durch die Umrisse des gemalten grauen Hintergrunds erscheinen, werden diese zu immateriellen Geistern, welche Plato’s Fluch über die Bilder wieder aufblitzen lässt. Bilder sind demnach für ihn Kopien der Kopien der Ideen. Fast nichts bleibt mehr übrig. Der Abklatsch eines Abklatsches. Mary Imhof inszeniert auf flagrante Art und Weise Plato’s Negativurteil. Ihre Abbildungen sind leere und flache Negative der Pflanzenformen.

Aber Mary Imhofs Pflanzengeister bilden umgekehrt gerade durch ihre radikale Entmaterialisierung die Seelen der Pflanzen ab. Sie schafft subjektive Kategorien aus dem mit eigenen Händen geschaffenen Garten: Kräuter, Blumen, Sträucher, Fruchtbäume und Sukkulenten. Ihre Kategorisierung erinnert an Karl Blossfeldt, der Pflanzen frontal abgebildet hat für den Kunstunterricht oder an August Sander, der die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ systematisch in Kategorien frontal fotografiert hat, als wichtigster Vertreter der «Neuen Sachlichkeit» in den 20er Jahren der Weimarer Republik.

Auf markante Weise unterstreicht die Bilderserie von Imhofs Garten auch das Paradox, welches in jeder Abbildung enthalten ist. Das Sujet ist gleichzeitig anwesend – indem es abgebildet wird – und abwesend, da der Gegenstand nicht mehr im Hier und Jetzt vorhanden ist. «Ceci n’est pas une plante», frei nach Magritte. Die weissen Schatten geben durch ihre platte Silhouetten-Form und in Abwesenheit einer dreidimensionalen Darstellung mittels Hell-Dunkelmodulation keine ontologische Illusion vor. Die Abwesenheit der Pflanzen könnte nicht brutaler unterstrichen werden. Diese «Löcher» fungieren als Auslöser für eine präzise, vielseitige und differenzierte Formstudie. Gerade im Vergleich, in dieser reduzierten bildnerischen Umsetzung der weissen und grauen Flächen, sticht die Vielheit und der Reichtum der Naturformen ins Auge.

Die Malerin spürt und ehrt so auf unprätentiöse Weise den «Genius Loci», den Schutzgeist dieses Ortes auf der kanarischen Insel Gomera und übersetzt dessen für Höchstsensible spürbare Vibrationen bildnerisch. Diese Emanationen übertragen und schaffen gleichzeitig die Identität und die Befindlichkeit dieses magischen Ortes immer wieder von Neuem.

Mary Imhof ist eine systematische Forscherin: zu jeder Pflanze hat sie Namen, Provenienz und Wirkung oder Nutzen minutiös recherchiert. Kategorien bilden und Objekte in Kategorien einordnen ist (frei nach Kant) schon an sich ein Akt der Erkenntnis. Mary Imhofs Herbarium ist ein systematisch abstraktes Werk, eine enorme Fleissarbeit unglaublicher Schönheit, in der von A bis Z alles selbst geschaffen wurde. Der Garten, die Pflanzen, die Pigmente, die Aquarellfarben, die Malerei. Einzig das Papier lässt sie Fabriano schöpfen…

Barbara Fässler, im November 2021

Über die Arbeit:

Cochenille / Ephemer
von Karmin bis Purpur
2014 – 2016

Barbara Fässler
http://www.barbarafaessler.com

Haus für Kunst Uri, Altdorf, 2016-17

Mary Anne Imhof

Perpetuierliches Streben nach dem Stein der Weisen
«All diese Prozesse, durch Versuch und Irrtum geprägt, machen das Material Farbe zur Kostbarkeit» schreibt Mary Imhof. Der steinige, langwierige, manchmal von Verzweiflung und vermeintlichen Niederlagen geprägte Forschungs- und Produktionsprozess, der sich hinter den Kulissen abspielt, lädt das Kunstwerk energetisch auf und scheint in seiner Aura mit. Verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die Experimente und Erfahrungen des Entstehenden, rücken die Kunstgegenstände als Endprodukte aus dem Fokus und werden als Meilensteine zu Zeugen der aufeinanderfolgenden Versuche. Mary Anne Imhof hat sich ein klares Ziel gesetzt: Karminrot selber herzustellen und das Farbpulver weiter zu verarbeiten. Asymptotisch nähert sich die Künstlerin mit ihren akribisch festgehaltenen Prozessen dieser Y-Achse an – manchmal mehr, manchmal weniger – ob sie diese je berühren wird, wissen wir nicht. Vielleicht spielt das Erreichen des Ziels weniger eine Rolle, als das Flanken schlagende, Rhythmus und Bewegungsart ändernde, ständige Unterwegs sein. Der Weg ist das Ziel. Schon für Platon ist die Philosophie – die Liebe zur Weisheit – ein Prozess, in dem wir mit Hilfe von Eros perpetuierlich zum absolut Schönen, Guten und zur letzten Stufe der Erkenntnis streben, welche wir – nach höchster Wahrscheinlichkeit – nie erreichen werden. Mary Imhof zerstampft, braut, köchelt, filtriert, extrahiert und sublimiert den Alchimisten ähnlich, auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Der geheime 4-stufige Prozess des alchimistischen «Opus Magnum» zur Umwandlung von Metallen in Gold – in Anlehnung an die 4 Urelemente Wasser, Erde, Luft und Feuer – erinnert an den neoplatonischen Aufstieg zum göttlich Guten. Die Transformation startet von Unten mit dem «Schwärzen» (Nigredo) der «Materia Prima». Der Urzustand der Materie wird gereinigt mittels «Weissung» (Albedo) – das Stadium der Vergeistigung und Erleuchtung. Nach der «Gelbung» (Citrinitas) wird die «Rötung» (Rubedo) anvisiert, das heisst, die Umwandlung der Materie in Gold, gleichgestellt mit der Vereinigung des Menschen mit Gott. Im Mittelalter verschwindet die «Gelbung» und der Prozess wird dreistufig, analog der christlichen Dreifaltigkeit «Trinität».

Rot ist einer der intensivsten Farbtöne: Signalfarbe, Feuer und Blut. Rot steht aber auch für Leidenschaft und Liebe, für Herrschaft und Gerechtigkeit: wir legen den roten Teppich aus und schwingen die rote Fahne. Rot vermittelt Kraft und Begeisterung und im höchsten Stadium steht die Farbe wieder für Erleuchtung: Sophia, die göttliche Weisheit erscheint in Rot.

Die Farbe Rot ist sehr schwierig herzustellen. Lange kannte man nur erd- oder eisengefärbte Rotbrauntöne. In der Antike wurden Rottöne aus der polnischen oder armenischen Kermeslaus hergestellt, daher der Name Karmin (von „Krimidja“, was in Sanskrit „vom Wurm produziert“ heisst). Die spanischen Eroberer in Südamerika entdeckten bald die Cochenilleschildlaus, welche bereits von den Azteken verarbeitet wurde. Ihr zwölf Mal stärkerer Farbstoff wurde ab 1530 zu Preisen gehandelt, welche nur von Gold und Silber übertroffen wurden. Die Spanier sicherten sich die Kontrolle über die wertvollen Tierchen und besassen bald das Handelsmonopol.

Nur die Weibchen des Dactylopius Coccus verfügen über das gesuchte rote Pigment, noch gesteigert in schwangerem Zustand. Sie leben auf dem Feigenkaktus, welcher nur bei speziellen klimatischen Bedingungen überlebt, weshalb die Züchtung der Cochenilleläuse in Europa nur auf den kanarischen Inseln gelungen ist. Das aus den kleinen Tierchen gewonnene Karminrot wurde in der Renaissance von Tintoretto, Vermeer, Rubens und Velasquez benutzt und findet als natürlicher Farbstoff heute noch Verwendung in der Kosmetik- und Lebensmittelindustrie (Lippenstifte, Nagellack, Ramazotti Amaro und Cannella Bellini Frizzante, Wurstwaren, Salami…).

Mary Imhofs opake Leinwände und transparente Gussbilder sind sedimentierte Stadien ihrer Versuchsanordnungen. Die fein lasierten oder kontrolliert gegossenen Rosa-, Magenta-, Bordeaux- und Violett-Töne überschwemmen den Raum sichtlich mit Wärme. Pointillistisch, impressionistisch, minimal oder kreuzschraffiert bearbeitet, bestechen ihre monochromen Werke durch die Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Farbabstufungen. Der Rot-Begriff wird in diesen intuitiv einnehmenden Werken in unzählige Nuancen aufgefächert und von Grund auf neu definiert. Die Bilder spiegeln den unermüdlichen alchemistischen Prozess im Hintergrund. Jedes Pigment und somit jedes Bild ist ein Unikum, handgeschöpft und handgemalt, entstanden in monatelangen Recherchen nach antiken Rezepten und dem Versuch ihrer Umsetzung. «Man kocht in einem zinnenen Kessel acht Pfund Regenwasser (..), schüttet acht Unzen fein pulverisierte Kochenille und vier Drachmen fein geriebene Weinsteinkrystallen (..) Dann schüttet man noch sechs Drachmen römischen Alaun dazu (…) und lässt sich das Kochenillen-Pulver zu Boden setzen» (kremer-pigmente.com). In ihrem Arbeitsbuch, notiert Mary Imhof jede einzelne Pigmentherstellung   mit den genau benutzten Massen und Verhältnissen der Zutaten und beschreibt gelungene und misslungene Prozesse wie eine Wissenschaftlerin. «Januar 2015: Intensiv rot = Karminannäherung? Was macht es aus, dass ich Rot und nicht Purpur erhalte? Mehr Alaun?» Oktober 2015: «Noch habe ich kein exaktes Mengenverhältnis-Rezept! Nach Welthe: Zu fett wird es glänzend und schwierig mehrschichtig zu malen. Zu mager bleicht die Farbe schneller weg

Mary Imhofs ununterbrochenes Suchen und perpetuierliches Experimentieren zeichnen ihren nomadischen Lebensweg und schlagen sich – diesmal in immaterieller und konzeptueller Form – auch in ihrem Berlinprojekt nieder. Während 120 Tagen hat sich die weitgereiste Altdorferin durch die deutsche (Kunst-)Kapitale treiben lassen, täglich vom Ausgangspunkt A – Auguststrasse 83 in Berlin Mitte – startend und wieder zurück. Schon die Peripatetiker um Aristoteles wussten die Gedankenstimulierung des Spazierens zu nutzen und unterrichteten flanierenderweise. Das Gehen rhythmisiert den Denkprozess und treibt die Wahrnehmung an. Die Spazierenden werden stimuliert, sich einzulassen auf Unvorhergesehenes. Der Stadtraum wird zum Bewegungsraum und zum Begeg-
nungsraum. Das zufällige Geschehen findet innerhalb eines vorgesteckten, konzeptuellen Rahmens statt. Ihre Erfahrungen notiert die Künstlerin allabendlich in abstrakten Parcourszeichnungen.

Das stetige Unterwegssein schlägt sich in Mary Imhofs Werk im Spazieren, im Forschen, im Experimentieren und im Notieren nieder. Diese «Materia Prima» transformiert die Urner Künstlerin durch komplexe al-chemistische Prozesse in monochrome Bilder. Der Stein der Weisen oder die Welt gesehen durch die rosa Brille?

Barbara Fässler, Dezember 2016

Über die Arbeit: 

‘Los colores del fuego’
(40 Bildtafeln 2013-14)

Stefan Behrens
www.villa-am-see-premnitz.de

Los colores del fuego
„Los colores del fuego“ eine Wand mit 40 quadratischen Farbfeldern aufgeteilt in ein gestrecktes Rechteck tritt dem Betrachter gegenüber. Die große Einfachheit und Konzentration jedes einzelnen Farbfeldes als auch dessen Zusammenspiel besticht. Kein Aufschrei, kein Auflodern wie der Titel des Werkes vermuten lässt, kein expressives urgewaltiges unbeherrschbares, sondern eine in ihrer Wildheit Unberechenbarkeit reduzierte Abstraktion auf den materiellen Kern, der zugleich ein Geistiger ist, das Gesetz seiner Selbst, den große Sanftmut Schönheit und die Aura des Kostbaren umgibt. Etwas über den Tag hinaus, nicht außerhalb der Zeit, aber über das sich dem Menschen real Vorstellbare tritt dem Betrachter gegenüber in einer Erscheinung, die an Präzision, Bestimmtheit, nicht Gesetztheit, sondern als da seiendes bereits vor aller menschlichen Entäußerung existierend, aber in einer Form, die sein Wesen nur bedingt dem Betrachter preisgibt.
Es bedurfte des Auges des Künstlers die lange Wanderung und Suche nach dem Kern des Geschehenen, einer Ortsentwicklung, entstanden aus Eruption und Verwitterung, auf eine Fläche zu bringen.
Lesbar ist das Werk „Los colores del fuego“ von Mary Anne Imhof als ein Landschaftsbild des 21. Jahrhunderts mit einer Ästhetik und Wahrnehmung, die das Entgegengesetzte, ja den scheinbaren Widerspruch birgt und doch immer das Selbe ist.
Es sind die Erscheinungsformen, die Vielheit des eigentlich Einen, die uns heute so verwirren, Beobachtung, Wahrnehmung an den Zehntel-Sekunden-Rhythmus ge-wöhnt, verstellen den Blick.

Erkenntnis braucht Zeit und Kunst braucht sie auch.

Insoweit ist dieses Werk mehr als ein abstraktes Landschaftsbild, es kann eine Schule des Sehens und der Erkenntnis sein, für den, der es will.
Zur Wandlung der Erscheinung in Farbe und Form braucht es nur ganz wenig veränderter Parameter, eine Änderung der Anordnung reicht.
Ort und Zeit sind wie Farbe und Form, die einzigen wirklichen Variablen.
Der Entstehungsprozess, der Arbeitsprozess von Mary Anne Imhof spiegelt die fundamentale Qualität wieder. Erst die Erfassung der Natur und Landschaft, dann das Auffinden der Segmente in denen sich Natur und Zeit vereinigt und uns als Erscheinung, Materie in Farbe und Form gegenübertritt.
Aus den selektierten Segmenten in ihrer Reinheit „atomisiert“, pulverisiert, malt Mary Anne Imhof in einem langwierigen, fast meditativen Prozess ihre Pigmente, als eine Art kleinster Teil in Farbe und Form.
Durch Bindemittel gebunden erzeugt sie ein geistiges Band der Materie, Form, verbindet sie die millionenfachen einzelnen Pigmente zu einer neuen Form, einer Abstraktion, die als zweite Natur vor uns erscheint und doch nur eins ist: Natur.

Man wünsche diesem Werk einen musealen Ort, wo man es lange sehen kann, wieder kommen kann und sich an der großen Schönheit und inneren Wahrheit erfreuen kann, eine wunderbare Verbindung von Natur-Geist und Kunst.

Bei dem in den Jahren 2011 bis 2013 entstandenem Werk der Schweizer Künstlerin handelt es sich formal um eine mehrstufige Reihung von 40 Farben, die jeweils auf
30 x 30 cm große Leinwände horizontal angeordnet sind.

Ein unendliches Spiel der Möglichkeiten und doch nur wenige wirklich wahre, reale, tatsächliche.

2015 Stefan Behrens / Kunsthistoriker

Text über die Arbeit:

Abstraktion, Natur und Stimmung auf der Suche nach dem Urgrund des Schöpferischen

Kristin T. Schnider 2006

Auf der Suche nach dem schöpferischen Urgrund
Die selbsterklärte Absicht, sich mit dem Abstrakten, dem Nicht-Figürlichen auseinanderzusetzen und Farbe, wie auch andere Materialien – die Farbe als reines Pigment, Holzasche, in das Erschaffene eingefügte, gefundene Materialien, Blätter vom Baum wie beschriebene Blätter vom Block – als Vehikel zu benutzen für die Suche nach dem „Urgrund des Schöpferischen“, wie Mary Anne Imhof es selbst formuliert, kann beim Anblicken der Bilder nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier noch immer Geschichten erzählt werden.
Der Wille zu abstrahieren, also zum wörtlich genommenen „Abziehen“ des Offensichtlichen vom Gesehenen führt zur direkten Auseinandersetzung mit dem „Zeigbaren“, dem Mitteilbaren, dem Aufruf dazu, in Flächen, Linien, wiederkehrenden Formen selbst zu sehen und wieder zu entdecken, was nicht in den Worten, Schlagzeilen, Ikonen, dem vermeintlich „Konkreten“ der alltäglichen Bildwelt manchmal so aufdringlich den BetrachterInnen entgegenkommt.
Die Geschichte des Wahrnehmens und Umsetzens der Erzählung von der Suche nach dem „Mehr-Sehen“ und dem damit einhergehenden Verstehen und „Finden-Wollen“ ist Mary Anne Imhofs Bildern eingeschrieben und wird sichtbar, je länger sie betrachtet werden.
Natur, sagt sie, die intensive Betrachtung ihrer unmittelbaren Umgebung bis hin zum Eintauchen in das Gesehene, ist ihr ein zentraler Ausgangspunkt. Von eigentlicher Naturmalerei kann selbstverständlich nicht die Rede sein, auch wenn auf einigen der „mobilen Bilder“, unterwegs festgehalten, durchaus Steine, Wasserspiegelungen, Umrisse von Pflanzen, Andeutungen von Landschaft erkennbar sind.
Letztlich aber löst sich ihr Blick vom Panorama und konzentriert sich auf Strukturen, bis hin zu Nahaufnahmen, die uns zu den inneren Strukturen führen, in denen die Natur selbst uns als abstraktes, nicht sogleich erkennbares entgegentritt. Wüssten wir nicht um die Gitter der Eiskristalle, die Maserung von Birkenrinde, die Blasen im und Kratzer auf dem Eis, das einen See bedeckt, hätten wir keine Ahnung, was wir da sehen, kommt es als Fragment, als Muster daher.
Dieser Schritt weiter, den Mary Anne Imhof geht, ist der Kunst eigen, ist, was Kunst als Wille, ein „Mehr“ zu erschaffen, auszeichnet. Denn es geht nicht um Abbildung, sondern Befragung und daraufhin um die Umsetzung des Wahrgenommenen in ein Neues, das bei den BetrachterInnen weiterführen soll, denn sie sind in diesen Bildern in die Suche nach dem, was uns alle antreibt, unsere Welt im Sehen stets wiederzuerschaffen, einbezogen.
Die Auseinandersetzung mit dem Material, der Farbe und der Fläche, auf die sie schliesslich aufgetragen wird, die klaren Fragen nach den Möglichkeiten in den Schwarz/Weiss-Serien Gegensätze – wie „Hell“ und „Dunkel“ – zu vereinbaren, Aussen- und Innenwelt in ein Verhältnis zu setzen und malend zu erforschen wie sie sich gegenseitig beeinflussen, findet in den „Stundenbildern“ dann nicht eine Auflösung sondern treibt das Unternehmen „Suche nach dem Urgrund des Schöpferischen“ in der Loslösung von der Methode voran.
Das Unterbewusste wird aufgerufen, aus dem die unformulierten Gedanken, die freischwebenden und noch unkategorisierten inneren Bilder – für eine oder zwei Stunden – auftauchen dürfen und in einem Vorgang der Écriture automatique festgehalten werden. Hier ist es die Stimmung, die das Gewicht zurückerhält, das ihr in der disziplinierten Betrachtung und der Auseinandersetzung mit dem Abstrakten versagt bleibt, denn der Wille, selbst zu formen, aus der Betrachtung der „Schöpfung“ mit Überlegung, Vorwissen und angeeigneter Mal-Technik zu einem eigenen „Schöpferischen“ zu gelangen, tritt in den Hintergrund.

Betrachtet man die neusten Arbeiten Mary Anne Imhofs als Ganzes, wird deutlich, dass, was dem Abstrakten innewohnt, unweigerlich immer wieder Gestalt annehmen und erzählen wird. In den Bildern ist Bewegung, die auf ein Wachsen, ein Werdenwollen hinweist. Ein Ringen der Formen – und auch der Farben: so wiederholen sich etwa kräftige Verschlingungen von Strichen in Variationen, nähern sich im Grunde einander abstossende Farben in der Komposition einander immer wieder herausfordernd an, sodass der Eindruck bleibt: da will etwas werden, da strebt etwas auf eine Gestalt – nicht auf eine Figur, das Figurative! – zu, die vielleicht eine der vielen möglichen Antworten in sich trägt, die uns dem Urgrund des Schöpferischen näher bringen.

Kristin T. Schnider